Ist es sinnvoll, mit regressiven Linken oder autoritären Rechten über Islam oder Migration zu diskutieren?
Eher nicht, denn:
1. Selbst wenn sie die Wahrheit einer These als solche aufgrund zwingender Beweise anerkennen (müssten), sind regressive Linke der Meinung, dass diese aus moralischen Gründen verschwiegen werden sollte. Autoritäre Rechte verschließen sich der Wahrheit vorzugsweise durch ihre ungeprüfte Ablehnung („fake news“).
2. Absolute Wahrheiten gibt es nicht. Vor allem nicht in sozialen Fragen. Mit der Komplexität des (sozialen oder materiellen) Phänomens steigt die Schwierigkeit, dieses gänzlich und treffend beschreiben zu können, was sich beide Gruppen zunutze machen.
Zusätzlich steigt bei sozialen Phänomenen die Schwierigkeit ihrer sprachlichen Erfassung durch den Faktor Mensch. Menschen sind dynamisch, v.a. in Bezug auf ihre Bewusstseinsinhalte und der aus diesen entstehenden Memplexe (kollektive Bewusstseinsinhalte). Je mehr Menschen ein Phänomen gemeinsam prägen, desto eher ist es im Wandel. Zusätzlich erschwert die Globalisierung die Bestimmung eines Memplexes, weil der Kontakt von Kulturen und unterschiedlichen Kulturträgern die Hybridität, also kulturelle Dynamiken und Interferenzen, begünstigt. Selbst bei jenen, die einen Kulturwandel ablehnen und für eine statische Gesellschaft werben, bleiben aufgrund des Faktors Mensch derart viele interindividuelle Unterschiede, dass sich sowohl der konservative Nationalismus als auch der religiöse Fundamentalismus vielschichtig zeigen.
Regressive Linke betonen dies, um Kritik, die notwendigerweise niemals holistisch richtig und treffend sein kann, als Pauschalisierungsversuch zu diffamieren, autoritäre Rechte verkennen oder ignorieren die Schwierigkeit der Bestimmung sozialer Phänomene, denken eindimensional und stilisieren Repräsentationen von Kulturen als überzeichnete einzige Wahrheit, die sie als Werbung für ihre Ideologie ihrer Komplexität berauben.
3. Beide Gruppen funktionalisieren verschiedene Erkenntniswege im Sinne ihrer politischen Agenda. Beispielsweise bemühen sie für ihre Argumentationen anekdotische Evidenz, also persönliche Erfahrungen oder Helden- bzw. Horrorgeschichten, und stellen diese erkenntnistheoretisch über verlässlichere Wege der Wahrheitsfindung wie Studien oder Expertenmeinungen, wenn letztere ihrem Welt- und Menschenbild widersprechen. Allerdings ist dabei eine erkenntnistheoretische Flexibilität zu beobachten: Für die Konsolidierung des eigenen Weltbildes wird das benutzt, was da ist.
4. Ein Grundproblem dabei ist die gängige konstruktivistische Überzeugung, dass es mehrere Wahrheiten gibt, die als gleichwertig anzusehen sind. Trotz beschriebener sozialer Dynamiken und der Schwierigkeiten zur Annäherung an die absolute Wahrheit gibt es Narrative, die bei Berücksichtigung der wissenschaftlichen Methode (also auch einem Vorzug von Studien und Logik gegenüber individuellem Erfahrungswissen) wahrer sind als andere. Jede dieser Wahrheiten ist in einen gesellschaftlichen und politischen Prozess eingebettet, in dem sie immer Gefahr läuft, ideologisch instrumentalisiert zu werden. Sowohl die Zurückweisung von (auch) unangenehmen Wahrheiten im Sinne der Moral durch regressive Linke als auch ihre plumpe Vereinfachung durch autoritäre Rechte leisten den damit verknüpften Problemen einen Bärendienst.
5. Regressiven Linken und autoritären Rechten geht es nicht um Argumente, sondern um eine weltanschauliche Positionierung, die ex negativo und distinktiv zur anderen, in ihren Augen falschen und im Sinne einer moralischen Abwertung auch schlechteren, Seite definiert wird. So predigen regressive Linke die Mär des in allen Bereichen grundsätzlich bereichernden Migranten und Islams und autoritäre Rechte diffamieren gleich jeden Muslim als Kulturzerstörer und Terrorist.
Die perpetuierte Dichotomie ist aus Sicht der regressiven Linken (Befürworter der kulturellen Vielfalt vs. Islamhasser und Rassisten) und bei autoritären Rechten (Kulturelle Deutsche vs. Vaterlandsverräter) eine Gegenüberstellung, die durch starke Kontrastierung identitäre Aufgehobenheit offeriert. Die Abwertung des Anderen wertet das Eigene auf.
Eine differenziertere Betrachtungsweise würde für beide Gruppen eine Relativierung ihrer an diese Narrative geknüpfte Weltsicht bedeuten und wird deshalb abgelehnt. Denn die positive Selbstbewertung (dazu gehört auch die eigene Weltanschauung) stellt eine wesentliche motivationale Variable für das menschliche Erleben und Verhalten dar und soziale Vergleichsprozesse mit anderen Gruppen bilden die Basis für die positive Bewertung der eigenen Gruppe. Kognitive Verzerrungen helfen in ihrer Funktion als psychologische Selbstschutzmechanismen dabei, unangenehme neue Fakten abzuwehren.
Diagnose und Prognose:
Langfristig, so glaubt man, müsste sich die Wahrheit Bahn brechen und dem Individuum ins Gesicht springen. Gleichzeitig weiß man, wie die Manipulation der Wahrheit sowohl ihre Vertreter selbst schützt als auch politisch instrumentalisiert werden kann. Wahrheit ist heute somit nicht mehr erstrebenswertes Erkenntnisziel, sondern ein dynamischer Begriff, der durch das erkenntnistheoretische Unvermögen oder die Unterwerfung unter die Interessen ihrer Verkünder seinem etymologischen Ursprung enthoben wurde. In den meisten Fällen wird, ungeachtet der objektiven Realität, wer‘s glaubt selig, weil Konsensglaube sozial bestärkt wird, während ehrliches Erkenntnisinteresse, ggf. auch gegen die Norm, aufgrund eines Konformitätsdrucks sozial eher sanktioniert wird.
Derartiger Umgang mit Wahrheit ist für den gesellschaftlichen Frieden ungemein gefährlich. Zunehmend führt er dazu, dass sich gegen Kritik immunisierende Ideologievertreter regressiv-linker und autoritär-rechter Provenienz der eigenen Weltdeutung entsprechende Scheinrealitäten konstruieren, die vor allem durch die Abgrenzung der jeweils anderen möglichst extrem ausfallen müssen, mit dem tatsächlichen Phänomen aber nur noch wenig zu tun haben (vgl. Punkt 5).
Diese Kontrastierung ist ein typisches anthropologisches Prinzip und betrifft auch Bereiche wie die ästhetische Wahrnehmung (Kunst), räumliche und zeitliche Vorstellungen, den Humor oder das Gefühlsleben. Die Ordnung der subjektiven Welt nach Gegensätzen, die Markierung von Differenzen, hilft uns, die Multidimensionalität von Wirklichkeit in eine Binarität zu überführen, die das Wahre zugunsten ihrer Erfassung und unserem Bedürfnis nach Klarheit und Unterscheidbarkeit zu fokussieren und zu verstärken scheint. Schon Leibniz behauptete, dass wir das Schlechte brauchen, um das Gute wirklich erleben zu können und auch das Erkenntniswerkzeug Hegels oder Adornos heißt nicht umsonst Dialektik anstatt Multilektik. Die Menschheit erkrankt zunehmend an einer gefährlichen Einfältigkeit, die der Vielfältigkeit aktuellerer Phänomene und Probleme nicht mehr gerecht wird.
Gründe dafür sind wohl u.a. die zunehmende Komplexität der modernen Gesellschaft samt ihrer identitären und politischen Fallstricke. Die fehlende Diskursfähigkeit regressiver Linker ist m.E. zusätzlich auf eine Übersensibilität einer überbehüteten Generation ohne Ambiguitätstoleranz und Konfliktlösungskompetenzen zurückzuführen. Weil sie selbst keine Probleme mehr hat, sucht sie sich stellvertretend andere (vermeintliche) Opfer, denen sie ideologisch assistieren kann. Davon zeugen safe spaces in Universitäten, Forderungen nach der Einführung von geschlechtergerechten Artikeln (das Bürgermeister) oder Redeverbote für Menschen, deren Meinung irgendjemanden verletzten könnte. Keiner eckt mehr gerne an, die Gleichschaltung von Meinungen als Garant für das kollektive (und darüber individuelle) Wohlbefinden hat seit einigen Jahren Methode. Vertreter verschiedener Weltsichten reden nur noch aus PR-Gründen miteinander und kaum jemand ist noch interessiert an einem ehrlichen Erkenntnisgewinn. Und das ist gefährlich.
Würden autoritär-rechte Narrative zum Konsens, wäre dieser Konsens nicht nur an der Realität vorbei. Gewichtiger ist, dass (nicht homogene) Gemeinschaften durch die Suche und das Finden von Gemeinsamkeiten funktionieren, deren Nichtexistenz das Identfikationsmerkmal autoritärer Rechter ist. Diese Narrative begünstigen also eine Spaltung, indem sie die menschliche Suche nach Unterschieden überbetonen, die dann, auch durch sich selbst erfüllende Prophezeiungen und die Internalisierung von externen Rollenerwartungen, diese (oft dadurch erst entstehenden) Unterschiede auch tatsächlich bestärkt.
Würden regressiv-linke Narrative zum Konsens, wäre die liberale Gesellschaft schutzlos gegenüber autoritären und freiheitsfeindlichen Strömungen, die aus den vermeintlich eigenen Reihen kommen. Kulturrelativismus und die Tatsache, dass viele regressive Linke beispielsweise auf dem islamistischen Auge blind sind, führen dazu, dass Bestrebungen entgegen der offenen Gesellschaft toleriert werden, solange sie einer schützenswerten Minderheit zuzuschreiben sind. Gedacht und gesagt werden darf nur noch, was politisch korrekt ist, während Andersdenkende diskreditiert werden.
Wir müssen wieder in eine produktive Streitkultur investieren, Ambiguitäts- und Frustrationstoleranz üben. Das bessere Argument ist wichtiger als die bessere Gesinnung.
Ein Vorschlag: Orientieren können wir uns am gemeinsamen Ziel, die Welt zu einer besseren zu machen, Leid zu minimieren, die wissenschaftliche Methode auch als Diskurswerkzeug wiederzubeleben und freiheitlich-demokratische Werte gemeinsam zu wahren und weiterzuentwickeln.
Guter Text. Hier musste ich jedoch schmunzeln: „Wortbedeutungssinn! – hier hat sich wohl die Freude am Formulieren etwas vergalopiert. ;-)
Stimmt, das ist doppelt gemoppelt! Danke für den Hinweis!
*vergaloppiert! ;)