Unbequeme Forschungsergebnisse – einfach ignorieren?
Der christlich-islamische Gottesglauben behindert ein wissenschaftliches Verständnis der Realität. Ich meine, das gilt nicht für Kreationisten, die einen relevanten Teil der wissenschaftlich beleuchteten Realität einfach ausblenden. Es gilt für praktisch alle Gläubigen.
Beispiele:
1. Wissenschaftlicher Konsens: Die Evolution der Arten ist ein ungerichteter, absichtsloser Prozess.
Das widerspricht dem Dogma einer vorhergeplanten Erschaffung des Menschen nach „Gottes Ebenbild“ – wie metaphorisch man das auch immer auslegen will. Die Theologie behauptet eine vorher definierte Zielrichtung, die von der Biologie klar verneint wird.
Gläubige müssen diese Erkenntnis abstreiten oder ignorieren.
2. Wissenschaftlicher Konsens: Bewusstsein, Kognition, Emotion sind emergente Phänomene aus neuronaler Datenverarbeitung, welche in einem lückenlosen evolutionären Kontinuum entstanden sind.
Das widerspricht dem Konzept einer unsterblichen menschlichen Seele, welche den Menschen über alle anderen Tiere auszeichnet.
Gläubige müssen diese Erkenntnis abstreiten oder ignorieren.
3. Wissenschaftlicher Konsens: Emergente Phänomene wie Bewusstsein, Kognition, Emotion, Erinnerung enden, sobald ihre materielle Grundlage endet. Ein Lied endet, wenn der Sänger seine Stimme verliert. Ein Bewusstsein endet, wenn die geordnete, neuronale Datenverarbeitung endet (Schlaf, Narkose, Tod).
Das widerspricht dem Konzept einer unsterblichen menschlichen Seele, wie die Theologie ihn fordert.
Gläubige müssen diese Erkenntnis abstreiten oder ignorieren.
4. Wissenschaftlicher Konsens: Ein freier Wille, die autonome Urheberschaft eines Individuums an ihren Gedanken und Handlungen (wie die Theologie sie voraussetzt) kann es nicht geben. Gedanken sind Ergebnisse neuronaler Prozesse, die nicht unserer Steuerung unterliegen. Also können auch die Ergebnisse dieser Prozesse (unsere Gedanken und Handlungen) nicht unserer Steuerung unterliegen. (Das widerspricht dem Konzept einer libertaristischen Wissensfreiheit, wie die Theologie ihn voraussetzt).
Gläubige müssen diese Erkenntnis abstreiten oder ignorieren.
5. Wissenschaftlicher Konsens: Christentum und Islam sind kulturelle Erzeugnisse, die aus einfacheren Vorläufern hervorgegangen sind (aus Animismus, Polytheismus). Der Jahwe-Kult (der spätere Gott Abrahams) nahm seinen Anfang als althebräischer Wettergott in einem Kanon verschiedener Götter, die ihrerseits auf frühere, lokale Kulte zurückgehen. Die nachfolgende Priorisierung Jahwes über andere Götter entspringt willkürlichen psychologischen, historischen, kulturellen und politischen Variablen – nicht aber einer ontologischen Sonderstellung über andere Gottes-Ideen.
Gläubige müssen diese Erkenntnis abstreiten oder ignorieren.
6. Wissenschaftlicher Konsens: Menschliches Denken ist stark anfällig für kognitive Verzerrungen wie Bestätigungsfehler, identitär begründete Überzeugungen, Vermenschlichung der unbelebten Umwelt, Verfügbarkeits-Heuristik usw. Die wissenschaftliche Methode versucht, diese Denkfehler zu korrigieren. Der Gottesglaube aber beruht praktisch auf dem Wirksamwerden dieser kognitiven Fehler.
Gläubige müssen diese Erkenntnis abstreiten oder ignorieren.
Ich meine, wo immer wissenschaftliche Erkenntnisse mit religiösen Dogmen in Konflikt treten, wird ein wissenschaftliches Verständnis der Realität erheblich behindert.
Ich frage mich oft beim Lesen: Wie gehen Gläubige mit aktuellen populärwissenschaftlichen Büchern um? Z.B. mit Psychologen wie Daniel Kahnemann oder Steven Pinker, mit Kognitionswissenschaftlern, mit Biologen wie Neil Shubin oder Jerry Coyne – mit Historikern wie Yuval Noah Harari, mit Physikern wie Stephen Hawking oder David Deutsch – mit Mathematikern wie Max Tegmark und vielen anderen. Allesamt setzen sie ein wissenschaftliches Verständnis der Realität voraus, welches mit einer religiös-dogmatischen Weltanschauung überhaupt nicht mehr vereinbar ist. Die wichtigsten Erkenntnisse über die Realität und über den Menschen basieren auf einem Weltbild, das (unbeabsichtigt) die religiösen Dogmen als absurd nachweist.
Mir fällt auf: Beinahe jedes populärwissenschaftliche Buch irgendeines renommierten Forschers untergräbt – völlig unbeabsichtigt – eine christliche oder islamische Weltanschauung. (Nicht, weil Atheismus methodisch oder paradigmatisch vorausgesetzt wird – sondern weil die Forschungsergebnisse den religiösen Dogmen komplett widersprechen.)
Ist ein wissenschaftlich begründetes Verständnis der Realität überhaupt möglich, solange man an religiösen Dogmen (allgemeiner: an realitätsbeschreibenden Dogmen) festhält? Wie valide kann eine Weltanschauung sein, die einen relevanten Teil der Realität abstreiten oder ignorieren muss?
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