Muss oder sollte die Polizei Informationen in verschiedenen Sprachen bereit stellen? Oder ist von den hier lebenden Menschen mit Migrationshintergrund zu erwarten, dass sie zu diesem Zweck die deutsche Sprache erlernen?
Felix Bölter kommentiert die Kritik am Verhalten der Polizei anlässlich eines kürzlichen Großeinsatzes sowie die darauf folgenden Reaktionen.

Am 05.06.2018 sitze ich im Büro im Zentrum von Berlin, als kurz nach 10 Uhr eine gewaltige Kolonne von Polizeifahrzeugen mit hoher Geschwindigkeit und laufendem Martinshorn vorbei rast. Erst am nächsten Tag erfahre ich, was vermutlich der Grund für den Großeinsatz war:

>> Gegen 10 Uhr alarmiert ein Anwohner die Polizei. Er will gesehen haben, wie zwei Männer mit Schusswaffen in die Grundschule gelaufen sind.

Die Polizei informiert als erstes die Schulleitung. Die löst Alarm aus. Die Lehrer verbarrikadieren sich mit ihren Schülern in den Klassenräumen. Ein Großaufgebot der Polizei sperrt das Gebäude und anliegende Straßen ab. 250 Beamte sind im Einsatz. <<

Die Berichterstattung über den Polizeieinsatz, der nach vier Stunden glücklicherweise ohne Verletzte und ohne Feststellung einer Gefahrenlage beendet werden konnte, war überraschenderweise weder von den Ereignissen in der Schule noch den Maßnahmen der Polizei, sondern von einem gänzlich anderen Thema geprägt:

>> Innerhalb kürzester Zeit haben sich panische Eltern an den zwei großen Polizeiabsperrungen (Prinzenallee Ecke Osloer Straße sowie Ecke Soldiner Straße) versammelt. Die Stimmung ist geladen. Die Eltern erfahren nur schleppend, ob ihre Kinder schon evakuiert wurden, und wo die Kleinen sich aufhalten. […] Es seien kaum arabisch oder türkisch sprechende Polizisten vor Ort gewesen, um die aufgebrachten Eltern zu beruhigen. <<

Die Berliner Polizei veröffentlichte über Twitter eine Stellungnahme, in der die Vorgehensweise mit dem Hinweis auf den Vorrang der akuten Gefahrenlage verteidigt wird. Tags darauf wird Norbert Cioma, Vorsitzender der Berliner Gewerkschaft der Polizei, folgendermaßen zitiert:

>> „Der Berliner Polizei vorzuwerfen, dass sie bei einer Gefährdungslage an einer Schule in der deutschen Hauptstadt nicht auf Türkisch oder Arabisch kommuniziert, ist eine bodenlose Frechheit. Ich glaube kaum, dass Polizisten bei einem derartigen Vorfall in Istanbul auf Deutsch, Spanisch oder Kiswahili informieren.“ <<

Auf diesem Blog wurden die Ereignisse des Dienstags bereits folgendermaßen kommentiert:

„[…] Ist das künftig die Art, wie wir hier Multikulturalität respektive Integration leben und gestalten wollen oder kann den arabischen und türkischen Kritikern der Polizei zugemutet werden, die deutsche Sprache zu lernen, um künftig gesellschaftlich teilhaben zu können? Zumindest bei der turkeistämmigen Bevölkerung sollte doch zu erwarten sein, dass sie in der dritten Generation der deutschen Sprache mächtig ist?

Mit dem Zugeständnis und den mehrsprachigen Durchsagen der Polizei, die in Europa derart wahrscheinlich relativ einzigartig sein dürften, signalisiert die Polizei, dass sie gewillt ist, sich nicht nur sprachlich, sondern auch einsatzpraktisch anzupassen. […]“

Ich möchte hier die Geschehnisse aus Sicht eines humanistisch eingestellten Polizisten einordnen und einige Gedanken zu der Kritik an der Polizei, aber auch zu solchen hier angedeuteten Reaktionen anführen.

Viele Aufgaben erfordern klare Prioritäten

Ein möglicher Amoklauf in einer Grundschule ist eines der furchtbarsten Einsatzszenarien, die überhaupt auf Polizisten zukommen können. In den Uniformen der Einsatzkräfte stecken oft genug junge Eltern mit eigenen Kindern im Grundschulalter. Sie müssen sich auf der Anfahrt zum Einsatzort für das wort-case-Szenario, für den Anblick erschossener oder schwer verletzter Kinder, für einen möglichen Einsatz der Schusswaffe wappnen. Und doch müssen sie einsatzbereit bleiben, klare Gedanken fassen und dem Einsatzgeschehen folgen können.

Die hier relevante Aufgabe der Polizei lautet: Gefahrenabwehr. Das bezieht sich sowohl auf die Unschuldigen in der Schule als auch auf die Unbeteiligten im Nahbereich des Einsatzortes.

Da die Einsatzkräfte – sowohl die ersten Streifenteams als auch die später hinzu gezogenen Spezialeinheiten – unter größtmöglicher Eigensicherung und so gründlich wie möglich vorgehen, kann die Durchsuchung eines ganzen Schulgebäudes samt Grundstück tatsächlich mehrere Stunden in Anspruch nehmen.
Für die Dauer der Absuche wird rund um das Objekt eine weiträumige Absperrung eingerichtet. Dies ist unter anderem erforderlich, um ein Betreten des Einsatzbereiches durch Dritte und deren Gefährdung im Falle eines Feuergefechts oder des Einsatzes von Sprengmitteln zu verhindern. Im Rahmen der Durchsuchung und Räumung eines Gebäudes muss außerdem sichergestellt sein, dass nicht parallel wieder Unbeteiligte in das Objekt eindringen.

Natürlich bleibt ein polizeilicher Großeinsatz an einer Schule nicht lange unbemerkt, und so ist geradezu damit zu rechnen, dass innerhalb kürzester Zeit nicht nur Schaulustige, sondern auch besorgte Eltern und Angehörige der Schulkinder an der Absperrung erscheinen. Die Dauer der Durchsuchung gepaart mit der meist sehr dünnen Informationslage und der Anspannung der Einsatzkräfte zu Beginn des Einsatzes machen deren zunehmende Frustration es geradezu unvermeidlich – erst recht, wenn sie mit den Polizeibeamten gar nicht wirklich kommunizieren und auch sonst keine Informationen einholen können.

Amtssprache ist Deutsch!

Nun könnte man natürlich meinen, mit der Absperrung und Durchsuchung des Gebäudes und der Evakuierung aller Personen aus dem Gefahrenbereich hätte die Polizei ihren Auftrag erfüllt. Wer Informationen über das Einsatzgeschehen bekommen möchte, aber der deutschen Sprache nicht mächtig sei, habe in diesem Fall leider keine Möglichkeit, das eigene Bedürfnis nach Informationen zu stillen. Beides klingt in den oben zitierten Kommentaren an.

Dazu möchte ich folgendes zu bedenken geben: Erstens tun die deutschen Sicherheitsbehörden in meinen Augen gut daran, das eigene Handeln nicht an der Leistungsfähigkeit und -bereitschaft anderer ausländischer Pendants auszurichten, sondern ihren Job schlichtweg so gut wie möglich zu machen. Die Spekulationen von Herrn Cioma darüber, was die türkische Polizei in einer derartigen Situation wohl (nicht) tun würde, halte ich daher für weitgehend irrelevant. Jede Sicherheitsbehörde der Welt sollte in jeder Einsatzlage darum bemüht sein, die verschiedenen Aspekte der Einsatzbewältigung zu berücksichtigen und in angemessener Form abzuarbeiten. Wenn eine hiesige Sicherheitsbehörde dabei sinnvolle Maßnahmen trifft, die eventuell in einem anderen Land nicht zu erwarten wäre, dann ist das kein Minus-, sondern ein Pluspunkt für die deutsche Behörde. Das gilt ganz besonders, wenn als Gegenbeispiel die Exekutive eines Landes angeführt wird, das in der jüngeren Vergangenheit rechtsstaatlich gelinde gesagt problematisch agiert.

Alle, die dem Kommentar meines Mit-Bloggers zustimmen, möchte ich daran erinnern, dass es im ureigensten Interesse der Polizei liegt, eine zunehmend aggressive Menschenmenge zu beruhigen. Transparenz und Information sind wirksame Mittel zur Deeskalation – und die ist schon aus einsatzpraktischen Gründen erforderlich, wenn eine große Gruppe von Menschen von nur wenigen Polizeibeamten hinter einer Absperrung gehalten werden sollen. Gedanken zum Generationen-Projekt der Integration oder dem notwendigerweise aufwendigen Erlernen einer neuen Sprache gehen hier schlicht am Thema vorbei und helfen in einer derartigen Sofortlage nicht, um das Handeln der Polizei einzuordnen.
Dazu kommen Aspekte wie die Medienwirksamkeit eines solchen Ereignisses (Handgreiflichkeiten von Polizisten gegen verzweifelte Eltern wären unabhängig von Recht und Ethik ein PR-Desaster) und der Bedeutung, die eine hohe Akzeptanz und Ansehen der Polizei für den Erfolg künftiger Maßnahmen haben. Die Polizei mit dem Ruf von „Freund und Helfer“ kann ihre Arbeit sehr viel stressfreier und erfolgreicher erledigen – auch und gerade im Kontakt mit Bevölkerungsgruppen, die ihr gegenüber skeptisch bis ablehnend eingestellt sind. An diesem bloßen Auswuchs menschlicher Psychologie ändert kein – insbesondere unter Rationalisten reflexhaftes – Kopfschütteln über vermeintlich übertriebenes „virtue signaling“ etwas. Im Gegenteil: Es wäre gerade irrational, die Bedeutung dieser Dimension menschlicher Interaktion ignorieren oder herabspielen zu wollen.

Empathie vs. Ökonomie

Zu der oben erwähnten Gefahrenabwehr für unbeteiligte Dritte zählt auch die Vermeidung psychischer Traumata. Analog zu Einsätzen wegen schwerer Verkehrs- oder Bahnbetriebsunfälle sind Polizei- und Rettungskräfte unter anderem darauf bedacht zu vermeiden, dass jemand vor Ort aufgrund der Ereignisse oder eines erschreckenden Anblicks einen Zusammenbruch erleidet. Zu den wichtigsten Maßnahmen dafür zählen die Bereitstellung von Sichtschutz und Notfallseelsorgern. Insbesondere bei einem Sachverhalt wie dem vom letzten Dienstag, wo Eltern akute Lebensgefahr für ihre Kinder befürchten mussten und ohnmächtig dazu gezwungen waren, in einiger Entfernung vom Geschehen mehrere Stunden lang auszuharren und zu bangen, zählt dazu aber auch die Beruhigung besorgter Angehöriger und größtmöglichen Transparenz der Einsatzlage. Denn tatsächlich ist aus psychisch besonders belastenden Einsätzen wie dem Überbringen von Todesnachrichten bekannt, dass die besonnene, aber umfassende und ehrliche Beantwortung der Fragen der Betroffenen entscheidend zur geistigen Bewältigung eines solchen Momentes beiträgt.

Man könnte etwas überspitzt sagen: Wenn Zeit für regelmäßige Updates der anwesenden Pressevertreter ist, um die Neugier seelenruhig auf der Couch sitzender Fernsehzuschauer zu befriedigen, dann sollte doch erst recht Zeit dafür sein, aufgewühlten Angehörigen einige Informationen zukommen zu lassen, die kurz vor dem Nervenzusammenbruch stehen.

Ganz so leicht ist es offensichtlich nicht.
Zunächst einmal dürfte folgendes unbestreitbar sein: Wenn bewaffnete Personen gemeldet werden, die eine Schule betreten, dann kommt auf der Prioritätenliste der Polizei nach schnellstmöglicher Evakuierung der Schüler und Lehrer sowie Feststellung der möglichen „Störer“ sehr lange nichts mehr. Insbesondere in der ersten Zeit nach Einsatzauslösung wird jede freie Ressource auf diese beiden Ziele verwendet – nahezu alles andere muss dahinter zurücktreten. Das betrifft den umliegenden Straßenverkehr genauso wie weniger relevante Polizeieinsätze oder eben die Neugier von Unbeteiligten an der Absperrung.

Wenn nun nach und nach immer mehr Einsatzkräfte ankommen, können weitere Teilaufgaben wahrgenommen werden: Pressevertreter werden betreut, die kriminalpolizeilichen Ermittlungen vorbereitet, Lageinformationen für die Polizeiführung bereitgestellt, Rettungskräfte versammelt und instruiert. Jetzt erst ist eventuell auch Zeit dafür, die ersten Informationen an der Absperrung transparent zu machen.

Dabei ist die Polizei gezwungen, eine gewisse Verhältnismäßigkeit zu achten. Im Fachjargon nennt sich das „Ökonomie der Kräfte“. Jeder Beamte, der mit der Erteilung von Auskünften betraut wurde oder dessen Aufgabenwahrnehmung dies nicht im Wege steht, wird bereitwillig in jeder ihm bekannten Sprache Fragen beantworten und aufgebrachte Angehörige beruhigen. Wenn die Fragen aber in einer den Beamten nicht bekannten Sprache oder von zig Personen gleichzeitig und wild durcheinander gestellt werden, ist genau an diesem Punkt die Grenze des Leistbaren erreicht.
Weder wäre es ohne Weiteres vertretbar, unter den eingesetzten Beamten nach Kollegen mit Fremdsprachenkenntnissen zu suchen, noch kann in einer derartigen Einsatzlage kaum erwartet werden, dass weitere fremdsprachenversierte Beamte aus anderen Revieren herangezogen werden. Die folgende Empörung der Eltern, deren Informationsbedürfnis nicht befriedigt werden kann, ist nachvollziehbar, muss an den Beamten aber abprallen. Ihnen kommt die schwierige Aufgabe zu, in solch einer aufgeheizten und unüberschaubaren Situation und selbst in direkter Konfrontation mit weinenden, wütenden oder verzweifelten Angehörigen ruhig zu bleiben und besonnen ihren Auftrag zu erfüllen. Was auf den ersten Blick wie Indifferenz und fehlende Empathie wirken kann, ist notwendig für die Aufgabenwahrnehmung und die eigene psychische Gesundheit. Wenn in einer solchen Lage die Emotionen hochkochen und die Situation aggressiv wird, ist auch das erklärbar. Die weitere Beantwortung von Fragen macht das allerdings zunehmend schwerer.

Ein umfangreiches Angebot an mehrsprachigen und beliebig umfangreichen Informationen war und ist von der Polizei in einer derartigen Großlage folglich nicht zu erwarten. Die Tatsache, dass die Berliner Landespolizei am letzten Dienstag also offenbar mehrsprachige Durchsagen per Lautsprecherwagen durchgeführt zu haben scheint, ist den Beamten daher hoch anzurechnen.

Besonnenheit und Umsicht

Die Polizei als Behörde steht immer im Fokus der Öffentlichkeit und unter Beobachtung der Medien und gesellschaftlicher Verbände – was absolut richtig ist. Gleichzeitig begegnen Polizisten auf individueller Ebene Menschen, die oft einen der schwersten Momente ihres Lebens durchstehen müssen. Während die Erwartungshaltung öffentlicher und gesellschaftlicher Akteure oft so gespalten wie die Bevölkerung selbst sein kann, ist die Erwartungshaltung hilfsbedürftiger Einzelpersonen so individuell wie die Menschen selbst.

Es ist dieser Spagat zwischen öffentlichem Einstehen für behördliches Handeln einerseits und besonnener, aber empathischer Aufgabenerfüllung andererseits, die sowohl Reiz als auch Herausforderung des Polizeiberufes ausmacht. Das dabei entstehende Spannungsfeld ist schwerer zu überblicken, als es für Außenstehende auf den ersten Blick wirken dürfte. In meinen Augen erschöpft sich professionelles Handeln von Polizisten nicht in pflichtgemäßem Abarbeiten gesetzlicher Aufträge, sondern umfasst darüber hinaus auch die empathische Berücksichtigung fremder Interessen – und die Fähigkeit und Bereitschaft, diese wenn erforderlich hintenan zu stellen. Die Ereignisse vom letzten Dienstag bieten ein schönes Beispiel für die Vielzahl von Facetten, die polizeiliches Handeln bestimmen und die dieses Berufsfeld so einzigartig machen.

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